Plakattext:
Manifest der Hochschulen gegen die Notstandsgesetze
Der Rückzug der Hochschulen vom politischen Alltag und das Votum eines Teils der deutschen Akademiker für reaktionäre und faschistische Strömungen hat den Untergang der ersten deutschen Republik mitverschuldet. Wissenschaft, die sich den politischen Kämpfen der Zeit autoritär gegenüberstellt, gibt ihr Prinzip humanitärer Rationalität auf. Dagegen setzen wir unsere von kritischer Vernunft geleitete politische Aktion.
Seit acht Jahren strebt die Bundesregierung die Generalrevision des Grundgesetzes durch Notstandsartikel an. Als sich der Kalte Krieg zwischen den Großmächten in Europa seinem Ende neigte, begannen die herrschenden Kräfte der Bundesrepublik, unter dem Vorwand der Vorsorge und unter Ausnutzung des berechtigten Sicherheitsstrebens der Bevölkerung, ihre großangelegte Kampagne zur Einschränkung der staatsbürgerlichen Freiheiten. Nur die Unruhe und die politischen Aktionen unabhängiger Kräfte haben bisher die Verstümmelung der Verfassung verhindert, die ein Bollwerk gegen jede Form der Willkürherrschaft sein soll.
Im Sommer 1965 hat der Deutsche Bundestag sieben teilweise verfassungswidrige Notstandsgesetze in scheindemokratischen Schnellverfahren beschlossen, die ein Programm der totalen Militarisierung des öffentlichen und privaten Lebens darstellen. Nur die Krise der Finanzwirtschaft hat die Realisierung dieser Pläne verzögert, die immer noch als Recht und Gesetz gelten.
Die Notstandsgesetz-Entwürfe der Großen Koalition halten an den diktatorischen und militaristischen Tendenzen fest, die schon alle früheren Vorlagen gekennzeichnet haben.
Außenpolitisch bedeuten die vorgesehenen Vorbereitungen auf einen "Zustand der äußeren Gefahr", der von den herrschenden politischen Kräften jederzeit beliebig behauptet werden kann, eine Störung der Bestrebungen zur Festigung und zum Ausbau der internationalen Beziehungen in Europa. Die Notstandsgesetze sind kein Schutz vor Kriegsgefahr, sie blockieren Friedenssicherungen.
Mit der Einrichtung eines kleinen gemeinsamen Ausschusses von Spitzenpolitikern wird die Möglichkeit geschaffen, unter Ausnutzung internationaler Krisensituationen scheinbar legal ein Diktaturregime zu errichten. Die Entscheidung über Krieg und Frieden würde ganz und gar in diesen Exklusivzirkel verlagert.
Innenpolitisch würde die Einrichtung dieses Ausschusses die Macht der Exekutive noch mehr stärken und den Verfall kritischer demokratischer Kräfte in Öffentlichkeit und Parlament perfektionieren, weil die Information und Diskussion außen- und verteidigungspolitischer Probleme dort hinter verschlossenen Türen nach Belieben der Regierung erfolgen könnte. Es soll zulässig werden, daß der Bundestag seine Gesetzgebungsbefugnis an diesen Ausschuß abtritt und sich damit selbst völlig entmachtet, wie es die letzte Volksvertretung von Weimar mit dem Ermächtigungsgesetz im März 1933 getan hat, mit dem die faschistische Machtergreifung den Schein der Legalität erhielt. Schließlich soll der gemeinsame Ausschuß sogar von sich aus die Gesetzgebungsbefugnis des Parlaments übernehmen können, wenn es beschlußunfähig ist; die Existenz der Volksver- |
tretung wird damit den jeweiligen Interessen eines Teils der Abgeordneten ausgeliefert.
Der Hauptstoß der Notstandsgesetze richtet sich gegen die große Masse der abhängig arbeitenden Bevölkerung und gegen ihre Interessenvertretung. Schon in Friedenszeiten soll eine Arbeitsdienstpflicht ermöglicht werden, die den verpflichteten Arbeitern und Angestellten das Streikrecht nimmt und damit ihre gewerkschaftliche Vertretung entmachtet. Zudem soll jene herrschende Rechtsprechungspraxis, die in zwanzig Jahren fortschreitender Aushöhlung der aktiven demokratischen Kraft der Gewerkschaften zur Einengung des Streikrechts geführt hat, nun auch noch verfassungsrechtlich zementiert und damit die Streikfreiheit willkürlich eingeschränkt werden.
Sogar das Militär soll in innenpolitischen Auseinandersetzungen gegen die Bevölkerung eingesetzt werden können. Den wahren Zweck der Notstandspläne hat der Innenminister in ungenierter Offenheit enthüllt: Der Staat müsse für den Augenblick gerüstet werden, in dem die "Sonne der Konjunktur" nicht mehr scheine.
Diesem System der Notstandsrüstung der Gewalt entspricht die Herbeiführung tatsächlicher Notstände durch die Notstandsplaner selbst. Am 2. Juni ist der Notstand der Demokratie erschreckend deutlich geworden. Der Aufmarsch eines Heeres von Polizeikräften beim Besuch des persischen Diktators und die von der verselbständigten Exekutivewestberlins provozierte Erschießung unseres Kommilitonen Benno Ohnesorg haben zuletzt unzweideutig gezeigt, daß Teile des Establishments schon heute die Legalität verlassen, wenn das die Aufrechterhaltung ihrer Herrschaft erfordert.
Gleichzeitig werden die sich verschärfenden wirklichen Notstände auf vielen Sektoren des gesellschaftlichen Lebens geleugnet oder verschleppt. Schon heute bedroht ein wachsender Bildungsnotstand die Zukunft unserer Gesellschaft, ohne daß in absehbarer Zeit Abhilfe zu erwarten wäre. Die Auswirkungen der Wirtschaftsrezession werden auf die sozial schwachen Gruppen abgewälzt.
In Griechenland hat ein Militärputsch die durch freie Wahlen bevorstehende Ablösung der für den wirtschaftlichen, sozialen und politischen Notstand des Landes Verantwortlichen verhindert. Auch jene Putschisten versuchten, ihrem Gewaltstreich durch Berufung auf Notstandsartikel den Anschein der Legalität zu geben.
Die Notstandspläne der Bundesregierung sind darauf angelegt, in Krisensituationen den Weg der Gewalt zu weisen.
In Solidarität mit allen Gegnern der Notstandsverfassung und mit den Gewerkschaften fordern wir deshalb die Ablehnung des verfassungsändernden Notstandsentwurfes und die Rücknahme der bereits verabschiedeten „einfachen“ Notstandsgesetze.
WIR ERKLÄREN: Wir werden bei den nächsten Wahlen zum deutschen Bundestag keinem Abgeordneten unsere Stimme geben, der für diese Verfassungsänderung stimmt. Wir rufen alle Demokraten auf, dies den Parteien und Abgeordneten unmißverständlich zu erklären. Im Oktober 1967
Diesen Aufruf haben bereits über 100 Professoren sowie 40 studentische Vertreter unterzeichnet. Wir rufen Sie ebenfalls zur Abgabe ihrer Unterschrift auf. |